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Dirk Reinartz
Leben und Werk

Das allerbeste am Licht ist jedoch seine andere Seite – der Schatten. Für mich wahrscheinlich noch wichtiger als das Licht selbst.

Dirk Reinartz 1994

Dirk Reinartz' Karriere begann in den frühen siebziger Jahren, als er, noch Student der Fotografie bei Otto Steinert an der Folkwangschule in Essen, seine Tätigkeit für den stern aufnahm. Für das Hamburger Magazin fotografierte Dirk Reinartz von 1971 bis 1977 umfangreiche Reportagen und wurde mit Bildstrecken aus Grönland, Indonesien oder den USA, aber auch mit einfühlsamen Dokumentaraufnahmen und kontrastreichen Portraits schnell als kreativer Bildautor mit einer prägnanten Bildsprache bekannt.

1977 verließ Dirk Reinartz den stern und schloss sich der jungen Agentur VISUM an. Die von drei seiner Kommilitonen von der Folkwangschule für Gestaltung in Essen, André Gelpke, Gerd Ludwig und Rudi Meisel 1975 gegründete Agentur war deutlich sozialdokumentarischer ausgerichtet als das große Nachrichtenmagazin, und Dirk Reinartz konzentrierte sich nun weitgehend auf gesellschaftliche Themen und Aspekte des Alltags der Menschen in Deutschland. Aufmerksam verfolgte er die Spuren, die die Teilung Deutschlands und die Wiedervereinigung im Lebensalltag der Menschen hinterließen. Sein kritischer Blick zeigt sich in vielen Bildstrecken, die er weiterhin im stern und in Merian, vor allem aber im ZEITmagazin und in art veröffentlichte.

Nach seinem Umzug nach Buxtehude bei Hamburg 1982 traten neben seine Dokumentarfotografie und Magazinpublikationen zunehmend umfangreiche, freie Werkserien in Schwarzweiß, aber auch in Farbe. Über Jahre verfolgte er Fragestellungen und visuelle Typologien, die er als exzellente Bildbände vor allem bei Steidl in Göttingen publizierte. In Kein schöner Land (1989), Besonderes Kennzeichen: Deutsch (1990), Deutschland durch die Bank (1997) oder Innere Angelegenheiten (2003) aber auch in Bismarck: Vom Verrat der Denkmäler (1991) zeigen sich sein feiner Sinn für historische Kontexte sowie sein spitzer Humor, mit denen er die Eigenheiten Deutschlands und der Deutschen in den Blick nimmt und für den Betrachtenden sichtbar macht. Reinartz ging es um die Auseinandersetzung mit einer deutschen Identität mit all ihren Brüchen und Widersprüchen, ihrer historische Verankerung und der Neuorientierung nach 1989. Ihn interessierten mentale Zustände und Befindlichkeiten, gesellschaftspolitische Entwicklungen und kulturelle Eigenarten der BRD, und auch die Situation in der DDR und die deutsch-deutschen Beziehungen waren wiederholt Gegenstand seines fotografischen Schaffens. In den Publikationen entwickelte seine Reportagefotografie parallel zum Text eine eigenständige Erzählebene, die ergänzende inhaltliche Informationen transportierte. 

Seine fortgesetzt intensive Reisetätigkeit  – mit einer kurzen Unterbrechung in den Jahren nach 1978 – fand ihren Niederschlag unter anderem in den Bildbänden Die Reise nach Pommern in Bildern (1987), Bismarck in Armerica (2000) und, posthum nach seinen Vorlagen von Karin Reinartz zusammengestellt, New York 1974 (2007).

Besonders hervorzuheben ist Dirk Reinartz' Werkserie totenstill, als Buch 1994 erschienen und weltweit vielfach ausgestellt. Mit einer Vielzahl von Aufnahmen von den Orten der Konzentrationslager der Nationalsozialisten ist totenstill eine typologisch angelegte Auseinandersetzung mit der Thematik des Massenmords anhand der baulichen Relikte der Lager und der heutigen Gedenkstätten in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Österreich, Frankreich, der Tschechischen Republik und in Polen. Reinartz fotografierte diese Orte als stille und doch sprechende Architekturen, als menschenleere Stätte, die als solche das schmerzhaft Abwesende evozieren. Mit seinen stillen Aufnahmen von trostlosen Lagerruinen und minimalen Artefakten der Geschehnisse zwischen 1939 und 1945 spürt er dem Nachhall des Holocaust nach. Seine Werkserie vermittelt eine Ahnung von dem unvorstellbaren Grauen dieses immensen Verbrechens, des Mordes an mehr als 6 Millionen Juden und anderen Verfolgten.

Dirk Reinartz' Bildsprache zeichnet sich durch oft architektonischen Bildaufbau, den bewussten Umgang mit Kontrasten und den wiederkehrenden Einsatz von Bildanschnitten aus, die sich zum Teil bis in seine Studienzeit bei Otto Steinert zurückverfolgen lassen. Diese formalen Gestaltungsprinzipien prägen auch die intensive Auseinandersetzung mit den Stahlskulpturen und Installationen Richard Serras, für den er seit 1983 in aller Welt nicht nur die Installationsansichten, sondern auch den Produktionsprozess in Gießereien und Stahlwerken dokumentierte.

Von 1998 bis zu seinem frühen Tod 2004 unterrichtete Dirk Reinartz als Professor für Fotografie an der Muthesius-Hochschule für Kunst und Gestaltung in Kiel.

Dirk Reinartz' umfangreiches Archiv wird von der Stiftung F.C. Gundlach und der Deutschen Fotothek Dresden gemeinsam bewahrt. Das gemeinsam ersonnene Archiv der Fotografen der Deutschen Fotothek zeigt online mehr als 2.000 bereits digitalisiert Motive aus seinem Schaffen.

Vita

  • 15. September 1947: in Aachen geboren

  • 1965 bis 1968: Fotografenlehre bei Foto-Preim in Aachen

  • 1968 bis 1971: Studium der Fotografie an der Folkwangschule bei Prof. Otto Steinert in Essen

  • 1970: Auszeichnung mit dem 1. Preis im stern-Wettbewerb "Jugend fotografiert Forschung"; Reise mit dem stern-Fotografen Eberhard Seeliger nach Japan

  • 1971 bis 1977: Fotoreporter beim stern in Hamburg

  • 1975: Berufung in die GDL (Gesellschaft deutscher Lichtbildner)

  • seit 1977: Mitglied der Fotoagentur VISUM

  • 1978: Berufung in die DGPh (Deutsche Gesellschaft für Photographie)

  • seit 1978: für mehrere Jahre keine Auslandsreisen – Arbeitsschwerpunkte dieser Zeit werden Deutschlandthemen aus den Bereichen Soziales, Kultur und Geschichte

  • seit 1982: freischaffender Fotograf in Buxtehude

  • seit 1994: Zusammenarbeit mit der Galerie m in Bochum

  • seit 1998: Professor für Fotografie an der Muthesius-Hochschule für Kunst und Gestaltung in Kiel

  • 27. März 2004: in Berlin verstorben

Publikationen / Auswahl

  • Die Reise nach Pommern in Bildern, Text: Christian Graf von Krockow, DVA, Stuttgart 1987

  • Kein schöner Land, Steidl Verlag, Göttingen 1989

  • Bilder einer Reise – Heinrich Heine in Italien, Text: Fritz J. Raddatz, C.J. Bucher, München 1989

  • Besonderes Kennzeichen: Deutsch, Text: Wolfram Runkel, Steidl Verlag, Göttingen 1990

  • Bismarck: Vom Verrat der Denkmäler, Text: Christian Graf von Krockow, Steidl Verlag, Göttingen 1991

  • Afangar (zusammen mit Richard Serra), Steidl Verlag, Göttingen 1991

  • Künstler, Steidl Verlag, Göttingen 1992

  • totenstill, Text: Christian Graf von Krockow, Steidl Verlag, Göttingen 1994

  • Backsteingotik in Norddeutschland, Wienand Verlag, Köln 1996

  • La Mormaire (zusammen mit Richard Serra), Richter Verlag, Düsseldorf 1997

  • Deutschland durch die Bank, Steidl Verlag, Göttingen 1997

  • Bismarck in America, Steidl Verlag, Göttingen 2000

  • Richard Serra – Torqued Spirals, Toruses and Spheres, begleitend zur Ausstellung in der Gagosian Gallery New York, Steidl Verlag, Göttingen 2001

  • Gebrannte Erde – Das bildhauerische Werk von Günter Grass, Steidl Verlag, Göttingen 2002

  • Innere Angelegenheiten, Steidl Verlag, Göttingen 2003

  • Richard Serra – Dirk’s Pod, Steidl Verlag, Göttingen 2004

  • Te Tuhirangi Contour, Steidl Verlag, Göttingen 2005

  • New York 1974, Steidl Verlag, Göttingen 2007

  • Hamburg – St. Georg 1981, Steidl Verlag, Göttingen 2010

Einzelausstellungen / Auswahl

  • 1975: New Yorker, Galerie an der Neupforte Aachen

  • 1977: Mit und ohne Auftrag, Staatliche Landesbildstelle Hamburg

  • 1978: Dirk Reinartz / VISUM, Photogalerie Lichtblick Dortmund

  • 1986: Neue Heimat. Eine Kleinstadt, z.B. Buxtehude, Goethe Institute in Dundee, Umea, Zagreb, Glasgow, Thessaloniki, Athen, Singapur, Tokio u.a.O.

  • 1989: Kein schöner Land, Kunstsammlung der Universität Göttingen

  • 1992: Künstler, VISUM Galerie Hamburg

  • 1994: totenstill, Galerie m Bochum, weitere Stationen bis 2000 im Goethe Institut São Paulo, Nationalgalerie Warschau, Saarland Museum Saarbrücken, Neue Nationalgalerie Berlin, Museum voor Fotografie Antwerpen, Scalo Gallery New York, Konsthall Malmö u.a.O.

  • 2003: Innere Angelegenheiten, Martin-Gropius-Bau Berlin

  • 2006: Dirk Reinartz – Bismarck und Bismarck in America, Galerie m Bochum

  • 2010: Dirk Reinartz – Fotografien, Suermondt-Ludwig Museum Aachen

  • 2011: Dirk Reinartz – totenstill, Goethe Institut Paris

Gruppenausstellungen / Auswahl

  • 1975: Sternfotografen, Werkstatt für Fotografie, VHS Kreuzberg

  • 1979: Fotografie made in Germany 1919-1975 – Die GDL Fotografen, Stadtmuseum München

  • 1985: Zeitgenössische Deutsche Fotografen, Museum für Photographie Braunschweig

  • 1988: Selbstportraits, PPS. Galerie F.C. Gundlach Hamburg

  • 1991: Otto Steinert und Schüler, Museum Folkwang Essen

  • 1996: Das deutsche Auge, Deichtorhallen Hamburg

  • 2007: Stille. Dirk Reinartz und Schüler, PaK Glückstadt, mit weiteren Stationen in Kiel, Stuttgart, Berlin, Wolfsburg, Buxtehude

  • 2013: CONCRETE. Fotografie und Architektur, Fotomuseum Winterthur